Franz Hinkelammert

Mit der Entstehung der Moderne  entwickelt sich eine Religionskritik, die durchaus viele Vorgänger hat, aber jetzt die gesamte Gesellschaft umfasst.  Mit dieser neuen Religionskritik tritt gerade die Entwicklung einer Kritik in den Vordergrund, die dann Marx als Kritik der irdischen Götter hervorhebt. Diese irdischen Götter erscheinen jetzt als Götter, die direkt mit der Wirtschaft verknüpft sind.

Marx zitierte Christoph Kolumbus mit den Worten: 

"Gold ist ein wunderbares Ding! Wer dasselbe besitzt, ist Herr von allem, was er wünscht. Durch Gold kann man sogar Seelen in das Paradies gelangen lassen."[1]

Diese Goldfaszination setzt sich sehr schnell in der Eroberung Amerikas durch. Auch die Indígenas hatten während der Conquista erkannt: Das Gold ist der Gott der Christen! Und in der Tat, sie haben sich wohl kaum getäuscht. Gustavo Gutierrez erzählt aus dieser Zeit:

"Es geschah, dass ein Häuptling alle seine Leute zusammenrief. jeder sollte an Gold mitbringen, was er hatte, und alles sollte dann zusammengelegt werden. Und er sagte zu seinen Indianern: Kommt, Freunde, das ist der Gott der Christen. Wir wollen also etwas vor ihm tanzen, dann fahrt auf das Meer da und werft es hinein. Wenn sie dann erfahren, dass wir ihren Gott nicht mehr haben, werden sie uns in Ruhe lassen." [2]

Im 17. Jahrhundert spricht dann Hobbes davon, dass das Geld das Blut des Leviathans ist. Leviatan ist bei Hobbes  der Name den er dem entstehenden kapitalistischen Markt gibt. Dieser Leviathan ist der sterbliche Gott unter dem unsterblichen Gott der im Himmel ist. Léon Bloy antwortet darauf später mit einem Buch, dessen Titel ist: Das Blut der Armen. Darin stellt er fest: Das Geld ist das Blut der Armen. Von Hobbes an wird der Markt zum Zentrum einer irdischen Religion.

Später übernahm Walter Benjamin in seinem Fragment "Kapitalismus als Religion"[3] diese Position und entfachte damit eine Debatte. Die gleiche These lässt sich, wenn auch etwas distanzierter, bei Max Weber finden, wenn er behauptet: „Die alten Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern." Das Geld ist zweifellos eine der wichtigsten dieser unpersönlichen Mächte. Zuletzt war es Papst Franziskus, der vom Götzendienst des Geldes und der Vergöttlichung des Marktes gesprochen hat.

Marx analysiert bereits einen Kapitalismus, dessen zentrale Referenz der Markt ist. Aber er stellt dies von Anfang an als einen irdischen Gott dar. In der Vorrede zu seiner Doktordissertation von 1841 sagt Marx, dass die “Philosophie”, die hier schon als kritische Theorie zu verstehen ist, ihren “Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewusstsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen” setzt.[4] Sehr bald aber konzentriert Marx dann seine gesamte Religionskritik auf die Kritik dieser „irdischen Götter“

Hier ist das “menschliche Selbstbewusstsein” die “oberste Gottheit” gegenüber allen “himmlischen und irdischen Göttern”. An die Stelle dieses menschlichen Selbstbewusstseins tritt dann in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosopie von 1844 der Mensch als höchstes Wesen für den Menschen:

"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."[5]

Marx zeigt auf, dass, wenn irgendetwas anderes als der Mensch zum höchsten Wesen erklärt wird, dies dazu führt, das “der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."

Dies ist ein Unterscheidungskriterium für die Religion, aber auch für die Götter dieser Religionen, nicht ein Angriff auf die Religion selbst. Dies gilt, obwohl Marx davon ausgeht, dass die Religion damit schließlich überflüssig wird. Sollte sie aber nicht überflüssig werden, kann diese Religionskritik völlig ihre Gültigkeit bewahren. Ihre Bedeutung als Unterscheidungskriterium behält sie.

Marx sagt indirekt etwas, das für unsere Vorstellung von Marx völlig fremd ist: Gott ist Mensch geworden. Er sagt es aber nicht im religiösen Sinne, sondern im anthropologischen. Er sagt auch, was der Mensch tut, wenn der Mensch zum höchsten Wesen – wenn man so will, zum Gott - für den Menschen wird. Es ist wieder etwas ganz anderes, als es unseren normalen Vorstellungen entspricht: Der Mensch wirft jetzt alle Verhältnisse um, in denen “der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Es ist die Praxis für die eine andere Welt möglich ist. In dieser Praxis ergibt sich die Selbstverwirklichung des Menschen. Diese Praxis steht dann dem kapitalistischen Markt, seinem Geld und seinem Kapital gegenüber.

Dies ist das Paradigma der marxschen Religionskritik und gleichzeitig das Paradigma des marxschen Humanismus, der ein Humanismus der Praxis ist. Mir scheint es gleichzeitig das Paradigma des kritischen Denkens überhaupt zu sein.

Dies ist die Religionskritik des jungen Marx. Hier wird nicht einfach die Religion kritisiert, sondern kritisch erfasst. Dass die Religion nicht abgestorben ist, wie Marx es erwartete, ist dafür völlig sekundär.

Die Religionskritik des späteren Marx.

Diese unsere bisherige Analyse konzentriert sich fast ausschließlich auf den jungen Marx. Der spätere Marx  führt diese Religionskritik weiter, aber er wechselt die Worte, in denen er sich ausdrückt. Diese wirklich kritische Anschauung der Welt:

 „war schon angedeutet in den “Deutsch-Französischen Jahrbüchern” in der “Einleitung zur Kritik der  Hegelschen Rechtsphilosophie” und “Zur Judenfrage”. Da dies damals noch in philosophischer Phraseologie geschah, so gaben die hier traditionell unterlaufenden philosophischen Ausdrücke wie “menschliches Wesen”, “Gattung” pp. den deutschen Theoretikern die erwünschte Veranlassung, die wirkliche Entwicklung zu missverstehen und zu glauben, es handle sich hier wieder nur um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke…”[6]

Es geht hier immer darum: die Religion muss im Namen des Menschen kritisiert werden, nicht im Namen irgendeines wahren Gottes. Götter sind falsche Götter immer dann, wenn sie Menschenopfer verlangen. Diese falschen Götter nennt Marx Fetische. Damit sind eben Götter, die gerade keine Menschenopfer verlangen, keine falschen Götter. Dieses gilt auch, wenn Marx sie keineswegs benennt. Es kann daher kein Zweifel sein, dass Marx seine gesamte Religionskritik in der Tradition der jüdischen und christlichen Idolatrie-Kritik entwickelt, die allerdings im Christentum seiner Zeit weitgehend ihre Bedeutung verloren hatte. Dies zeigt dann, dass letztlich die Religionskritik von Marx Idolatriekritik ist.

 

Die Religionskritik wird damit zur Fetischismuskritik. Das Wort Fetischismuskritik ist dabei völlig äquivalent zum Wort Idolatriekritik.  Aber da ist kein Bruch, aber auch nicht nur ein einfacher Wechsel der Worte, sondern eine Veränderung des Schwerpunkts. In der Vorrede seiner Dissertation spricht er vom Spruch gegen himmlische und irdische Götter, in seiner Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie vom Ende der Religionskritik. Jetzt spricht er nicht mehr über die himmlischen Götter, sondern über die irdischen. Er nennt sie etwas später Fetische. Aber diese Kritik der irdischen Götter ist für Marx keineswegs beendet, sondern tritt in den Mittelpunkt unter dem Namen der Fetischismuskritik in bezug auf Markt, Geld und Kapital. Dies ist einer der Gründe, warum er die Sprache ändert. Mir scheint es noch einen anderen zu geben. Die ausdrückliche Religionskritik ist immer in der Gefahr, ihre Kritik auf eine einzige Religion zu richten. Der Anspruch von Marx aber ist universal. Er kann sich daher nicht auf eine Kritik des Christentums beschränken, mit der er begonnen hat. Darum kann er seine Religionskritik jetzt innerhalb seiner Kritik der politischen Ökonomie weiterführen. Sie richtet sich gegen erfahrbare, irdische Götter und kann wissenschaftlich weitergeführt werden. Die himmlischen Götter kann man nicht empirisch erfahren, denn sie sind unsichtbar. Sie werden sichtbar in den irdischen Göttern, indem diese den Menschen sichtbar in ein “erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen” verwandeln. Wie diese irdischen Götter das bewerkstelligen und welchen Gesetzen sie dabei folgen, kann dann nur die Kritik der politischen Ökonomie zeigen. Dies ist ihre Aufgabe. Die Religionskritik bleibt jetzt nicht einfach Kritik des Christentums, sondern Kritik aller Religion. Der Standpunkt  dieser Kritik ist der marxsche Humanismus der Praxis.

Dieser spätere Marx weitet diesen seinen kategorischen Imperativ aus:

“Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter."[7]

Jetzt handelt es sich nicht nur um den Menschen, sondern schliesst die Natur ein, die nach Marx der erweiterte Körper des Menschen ist. Es gibt kein menschliches Leben ohne das Leben der Natur.

Diese Religionskritik als Fetischismuskritik bleibt eine Kritik der irdischen Götter, die falsche Götter sind. Dabei setzt sie ein Kriterium für das voraus, was falsch ist. Es handelt sich um das gleiche Kriterium, das er in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosopie vorgestellt hat: der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen. Ohne dieses Kriterium hat die ganze Fetischismuskritik nicht den geringsten Sinn. Aber dies Kriterium bekommt eine andere Dimension und wird daher bei Marx auch mit anderen Worten weiterentwickelt. Dies tut Marx in seinen Thesen über Feuerbach, in der deutschen Ideologie und gipfelt im Manifest. Es wird zum Kriterium, das von der Subjektivität der objektiven Welt her entwickelt wird.

Marx formuliert jetzt seine Vorstellung der Befreiung des Menschen in anderen Ausdrücken. Im kommunistischen Manifest sagt er:

“An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.”[8]

Der Inhalt bleibt der gleiche. Er wird jetzt als universale Emanzipation des Menschen ausgedrückt, die niemanden ausschließt. Dies ist ein Freiheitsbegriff, der völlig über den bürgerlichen Freiheitsbegriff hinausgeht. In diesem bürgerlichen Freiheitsbegriff sind die bürgerliche Gesellschaft und alle ihre Mitglieder frei, auch wenn einige sogar verhungern müssen. Bei Marx geht die Freiheit gerade von der Befreiung des Körpers aus.

Es handelt sich um das gleiche, das danach als Gerechtigkeitskriterium auftaucht, vor allem in seiner Kritik des Gothaer Programms: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.

Die Analyse de Papstes Franciscus

Der jetzige Papst hebt hervor, dass die Leugnung des Primats des Menschen die Schaffung neuer Idole nach sich zieht.

„Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vor­herrschaft über uns und über unsere Gesellschaf­ten. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen.“  (Nr. 55)

Hier ist dann Platz dafür, folgendes Jesuswort zu zitieren:

Der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat ist für den Menschen da.

Das revolutionäre wird sichtbar, wenn wir statt Sabbat „Tag des Herrn“ sagen:

Der Mensch ist nicht für den Tag der Herrn da, sondern der Tag des Herrn ist für den Menschen da.

In dieser Form ist auch hier gesagt, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.

Im Deuteronomium heisst es:

Leben und Tod, Segen und Fluch habe ich dir vor Augen gestellt. So sollst du denn, dass du und deine Nachkommen am Leben bleiben, das Leben wählen... Deuteronomium 30,19-20

Dies bedeutet wieder, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.

Hieraus folgt dann: der Mensch ist nicht für den Markt da, sondern der Markt ist für den Menschen da.

Die Götzen, die Franziskus hervorhebt, sind Markt und Geld. Weil sie erst ins Spiel kommen, nachdem man den Primat des Menschen geleugnet hat, sind sie falsche Götter, Götzen und daher Fetische. Sie wurden zu Fetischen, in deren Namen eine Wirtschaft ohne menschliches Gesicht durchgesetzt wird. Die Leugnung des Primats des Menschen macht Markt und Geld zu Götzen eines erbarmungslosen Fetischismus, der aus der Gesellschaft eine Wirtschaftsdiktatur macht, die ihr (menschliches) Antlitz verloren hat.

Die falschen Götter, die den Menschen versklaven, müssen den Primat des Menschen verletzen und aufheben. Das stellt Franziskus kategorisch fest. Damit begibt er sich jedoch zugleich in Widerspruch zur Enzyklika Lumen fidei, die Ratzinger formuliert hat, auch wenn sie die Unterschrift von Franziskus tragen muss, um den Rang einer Enzyklika einzunehmen. Diese Unterschrift ist ein Akt der Höflichkeit. Die Enzyklika Lumen fidei behauptet:

„Der Glaube ist, insofern er an die Umkehr gebunden ist, das Gegenteil des Götzendienstes und heißt, sich von den Götzen loszusagen, um zum lebendigen Gott zurückzukehren durch eine persönliche Begegnung.“ (Nr. 13)

In Evangelii Gaudium dagegen sagt Franziskus, dass das Gegenteil des Götzendienstes nicht der lebendige Gott und auch nicht irgendein wahrer Gott im Gegensatz zu den falschen Göttern ist, sondern der Mensch. Der Mensch hat den Primat gegenüber den von Menschen gemachten und vergöttlichten (fetischisierten) Werken wie Markt, Geld und Kapital. Dieser Unterschied ist wesentlich. Die Enzyklika Lumen fidei behauptet, dass es um einen religiösen Konflikt zwischen falschen Göttern und dem wahren Gott geht. In Evangelii Gaudium dagegen - ebenso wie bei Karl Marx - geht es um einen Konflikt zwischen den falschen Göttern und dem Primat des Menschen durch gerechte Beziehungen. Denn der Gott, der diesen falschen Göttern gegenübersteht, ist ein Gott, dessen Wille es ist, dass der Mensch höchstes Wesen für den Menschen ist. Es ist ein Gott, der Mensch geworden ist. Aus der Sicht der marxschen Religionskritik ist solch ein Gott weder ein falscher Gott noch ein Fetisch. Die marxsche Religionskritik kann ihn überhaupt nicht verurteilen und tut es deswegen auch nicht. Aber er hat auch keine dogmatische Geltung oder Anerkennung. Neben ihm  ist immer auch der Atheismus legitim.

Die Katastrophe, die die Eroberung Amerikas durch die Europäer bedeutet hat, ist zum guten Teil durch diese Vorstellung, die noch Ratzinger vorbringt, legitimiert worden. Man brachte der dortigen Bevölkerung nicht die christliche Botschaft, sondern den angeblich wahren Gott. In dessen Namen verwirklichte man einen der großen Völkermorde unserer Geschichte. Die christliche Botschaft wäre gewesen, über den Menschen und seine zentrale Bedeutung zu sprechen. Das aber hätte bedeutet, diese Eroberung zumindest in dieser Form nicht durchführen zu können.

Es geht also darum, gerade von der Religionskritik von Marx aus zu bestimmen, welches in der marxschen Religionskritik die Götter sind, die als falsche Götter anzusehen sind und die daher Fetische sind. Dieses Problem wurde etwa seit der Jahrhundertwende in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie diskutiert. Ich habe in dieser Zeit an dieser Diskussion teilgenommen. Ich möchte gern einige dieser Gedanken hier zitieren:

„Was geschieht mit den Göttern, die selbst die Position vertreten, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, woraus dann folgt, dass auf der Erde alle Verhältnisse umzuwerfen sind, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist?"[9] Marx stellt diese Frage nicht, aber seine eigene Formulierung des kritischen Paradigmas führt schliesslich dazu, sie zu stellen. Tut man dies nicht, so bleibt die marxsche Kritik der Religion unvollendet.

In diesem Sinne entstand in Lateeinamerika die Befreiungstheologie im Inneren der kritischen Theorie. Sie entsteht, indem sie in der eigenen Tradition – in unserem Fall der christlichen Tradition – einen Gott entdeckt, der den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen anerkennt. Es ist der Gott, in dessen Namen Bioschof Romero einen Satz von Irineus vopn Lyon aus dem II. Jahjrhundert wiederentdeckte der sagt: Gloria dei vivens homo. (Die Ehre Gottes ist es dass der Mensch lebt). Es handelt sich um einen Gott, der Komplice und Mitarbeiter der Humanisierung und Emanzipation des Menschen ist.

Für diesen Gott ist auch der Mensch das höchste Wesen für den Menschen. Gott selbst in nur deshalb höchstes Wesen für den Menschen, weil er darauf besteht, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Dass Gott selbst Mensch geworden ist, bedeutet eben dies.“[10]

Wir können noch einmal wiederholen, mit welchen Sätzen die Religionskritik von Marx begann. Er spricht von dem “Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen”.[11]

Das Ergebnis unserer heutigen Weiterführung dieser selben Religionskritik führt dann in Anlehnung an die marxsche Sprache zu dem “Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter”, in deren Namen der Mensch nicht das höchste Wesen für den Menschen, sondern “ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist” und dazu gemacht wird.

Ich glaube, dass diese Weiterführung heute geradezu zwingend ist.

Tatsächlich spricht der Papst Franciscus ganz in diesem Sinne:

„Gott wird von diesen Finanz- und Wirtschaftsleuten sowie von diesen Politikern als nicht lenkbar, ja sogar als gefährlich wahrgenommen, weil er den Menschen dazu aufruft, sich selber voll zu verwirklichen und sich von jeder Form der Sklaverei frei zu machen.“[12]

Für Franciscus ist es der Wille Gottes, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei. Er kann daher mit dem Ergebnis der marxschen Religionskritik völlig einverstanden sein. Was diese ausdrückt, ist eben gerade die Gottesvorstellung, die durch die marxsche Religionskritik nicht verurteilt werden kann. Ein solches Urteil würde die marxsche Religionskritik selbst aufheben. Es handelt sich um eine Weiterführung der Religionskritik von Marx, die tatsächlich unvermeidlich ist und die in der gesamten marxschen Religionskritik faktisch impliziert ist. Sie wird jetzt expliziert.  Innerhalb der marxschen Religionsskritik sind jetzt Atheismus und Religio gleich legitime Positionen. Es ist aber leicht sichtbar, dass der Gott, den der Papst hier vertritt, dem Gott Jahve der jüdischen Tradition sehr viel näher steht als der mittelalterliche metaphysische Gott, der aus der griechischen Philosophie abgeleitet wurde.

Die Idolatriekritik und die Abschaffung des Marktes

Die Religionskritik von Marx, ebenso wie die Religionskritik von Feuerbach, ist eine Kritik der Selbstentfremdung, für die die Religion ein Ergebnis dieser Selbstentfremdung ist. Bei Marx tritt später an die Stelle des Ausdrucks Selbstentfremdung  der Fetischcharakter. Daher gilt dann auch jede religiöse Ethik – jeder Sinai – als heteronome Ethik, an deren Stelle eine autonome Ethik treten kann. Hieraus folgt dann, dass Marx als Ergebnis der Überwindung der Selbstentfremdung, die er vom Sozialismus erwartet, das Absterben der Religion erwartet. Marx will die Warenproduktion abschaffen, nicht aber die Religion. Er geht vielmehr davon aus, dass mit der Abschaffung der Warenproduktion das Absterben der Religion eingeleitet wird. Dies erwartet er, da ja mit der Abschaffung der Warenproduktion auch der Fetischismus der Ware und des Marktes abgeschafft ist, und daher die Kritik der Idolatrie ihr Objekt verliert. Marx entwickelt keine andere Dimension der religiösen Vorstellungen. Er wehrt sich daher, zusammen mit Engels, gegen Vorschläge, den Eintritt in die Sozialdemokratische Partei davon abhängen zu machen, dass die eintretende Person Atheist ist. Diese Atheismuserklärung wird erst sehr viel später nach dem Tod von Marx und Engels von vielen sozialistischen Parteien gefordert.

Das Ergebnis, das folgt, ist, dass die marxsche Religionskritik ihre Dimension ändert. Als Ergebnis der Erfahrungen des Sozialismus im XX. Jahrhunderts wird gerade das, was Marx an der Religion kritisiert,  zu einem Gegner, der nicht abschaffbar ist. Es handelt sich um das, was Marx zuerst die Selbstentfremdung und später den Fetischismus der Ware nennt. Die marxsche Religionskritik kann nicht mehr einfach antireligiös bleiben, sondern muss selbst in der Religionsgeschichte die vielen religiösen Auseinandersetzungen mit eben diesen religiösen Phänomenen der irdischen Götter entdecken, die nicht absterben und auch nicht absterben werden.. Es ist jetzt die marxsche Religionskritik selbst, die dies fordert. Sie ist gerade nicht widerlegt,  aber sie ist neu interpretiert. In dieser Form aber wird ihre Gültigkeit gerade bestätigt. Und es zeigt sich, dass sie das Ergebnis einer Jahrtausende langen Geschichte der Idolatriekritik ist, die nicht nur, aber weitgehend von der jüdisch-christlichen Tradition herkommt. Es handelt sich allerdings um eine Tradition, die ganz außerordentlich oft in dieser Geschichte unterbrochen wurde, und sehr häufig schlechterdings als häretisch betrachtet wurde und wird. Sie wurde faktisch von Marx wiederentdeckt und in unsere moderne Gesellschaft eingeführt in einer völlig neuen Breite ihrer Geltung. Und ich bin überzeugt, dass sie gerade heute wieder notwendig wird als eines der grundlegenden Elemente eines möglichen und notwendigen Übergangs zur Transmodernität, wie es Henrique Dussel nennt. Diese Religionskritik ist, wie wir gesehen haben, nicht etwa widerlegt, sondern ganz im Gegenteil heute in ihrer Geltung bestätigt.

In dieser ihrer heutigen Form führt daher diese marxsche Religionskritik zur Bestätigung der Aussage, die wir vorher bereits vorgestellt haben:

„Der Mensch ist nicht für den Markt da, sondern der Markt ist für den Menschen da.“

Dies gilt nicht nur für den Markt sondern ganz ebenso für das Geld und das Kapital. Es handelt sich wiederum um eine universale Forderung. Da heute der Markt die höchste strukturierende Institution der Weltgesellschaft ist, muss diese Forderung eine Grundforderung jeder menschlichen Ordnung heute sein.  Diese universale Forderung tritt neben die vorher entwickelte Forderung danach, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Sie besagt allerdings mit anderen Worten genau das Gleiche.[13]

Geht man hiervon aus, verändert ganz konsequent das Ergebnis der Marxschen Religionskritik. Es handelt sich um eine Veränderung, die in der Sache selbst liegt und nicht etwa eine willkürliche Entscheidung der Analyse ist. Wenn die Warenbeziehungen nicht abgeschafft werden können, ändert sich die Bedeutung dessen, was Marx den Kommunismus nennt und das letztlich doch seine Zielvorstellung ist. Was sich jetzt verändert, ist die Bedeutung dieser Vorstellung des Kommunismus innerhalb der marxschen Religionskritik. Eine alternative Politik zum heutigen Kapitalismus des Neoliberalismus ist jetzt notwendig die Politik einer systematischen Intervention in den Markt und in die Märkte. Daraus folgt aber, dass diese alternative Politik den Fetischismus der Märkte nicht abschaffen kann. Dieser Fetischismus bleibt und ist eine mit der Institution Markt verbundene Verehrung des Marktes als einem innerweltlichen Gott, der ständig Menschenopfer fordert.  Die Auseinandersetzung um diese alternative Politik muss daher immer auch weiterhin eine Auseinandersetzung mit diesen falschen Göttern des Marktes (die falsche Götter sind, weil sie Menschenopfer fordern!).

Die transzendentalen Vorstellungen des gelungenen menschlichen Zusaammenlebens

Damit ergibt sich, dass die marxsche Erwartung eines Absterbens der Religion als Folge der Verwirklichung des Kommunismus (mit seiner Abschaffung der Warenproduktion und damit des Warenfetischismus) nicht mehr möglich ist. Wenn man dieser Religion der falschen Götter (Fetische) entgegentreten will, ergibt sich dann natürlich die Frage, was mit dem Begriff des Kommunismus geschieht, wenn er nicht mehr als verwirklichbar vorgestellt werden kann.

In jedem Falle hört er auf, ein Ziel der menschlichen Entwicklung der Geschichte zu sein. Aber er verliert damit nicht notwendig seinen Sinn. Er verwandelt sich vielmehr in einen transzendentalen Begriff.

Diese Art transzendentale Begriffe tauchen tatsächlich gerade mit der Moderne in allen Wissenschaften und gerade besonders in den empirischen Wissenschaften auf.[14] Für die moderne Physik ist völlig grundlegende das Trägheitsgesetz, das gleichzeitig den Beweis liefert für die Unmöglichkeit des perpetuum movile. In den Sozialwissenschaften tauchen sie besonders in den Wirtschaftswissenschaften auf, wie zum Beispiel das Modell der vollkommenen Konkurrenz. Es ist von der gleichen Unmöglichkeit wie das Trägheitsgesetz. Es beweist gleichzeitig die Unmöglichkeit  der von der bürgerlichen Wirtschaftstheorie behaupteten Tendenz des Marktes zum Gleichgewicht. Diese Tendenz ist genauso unmöglich wie gemäss dem Trägheitsgesetz das perpetuum movile unmöglich ist. Aber unsere Ökonomen sind weitgehend ideologisiert, sodass sie diese Tatsache nicht einmal zur Kenntnis nehmen. In Wirklichkeit ist diese Tendenz zum Gleichgewicht genau das, was in der Physik das perpetuum movile ist. Sie ist völlig unmöglich, aber unsere Wirtschaftswissenschaften akzeptieren dies einfach nicht. Es ist mit ihrer Ideologie unverträglich. Eine ähnliche Perfektionsvorstellung hat Habermas mit seiner perfekten Diskursgemeinschaft.

Hier handelt es sich um Perfektionsvorstellungen, die perfekte physische Bewegungen betreffen und das perfekte Funktionieren von Institutionen wie der Markt.

Die marxsche Vorstellung vom Kommunismus ist eine solche Perfektionsvorstellung, die sich aber auf ein perfektes Zusammenleben der Menschen beziehen und von dieser Vorstellung  aus das Funktionieren der Institutionen beschreiben und kritisieren kann. Sie ist natürlich genauso legitim wie die anderen bisher erwähnten. Das wichtige ist nur, sie nicht als mögliches Ziel zu behandeln, sondern als Orientierungsmöglichkeit und einer Art Licht, das es erlaubt, neue Wege zu entdecken. Denn sie zeigen selbst nicht direkt einen Weg, sondern die Möglichkeit, einen Weg zu suchen. Es gibt andere Vorstellungen, die sich auf solch ein perfektes menschliches Zusammenleben beziehen und die innerhalb von religiösen Traditionen entwickelt wurden, Aber alle diese durchaus transzendentalen Vorstellungen haben unter sich eine Art Verwandtschaftsverhältnis.

Ich möchte dies nur zeigen an Hand von zwei solcher Vorstellungen, nämlich der des Kommunismus und der der christlichen Tradition in der Linie dessen, was dort als Reich Gottes bezeichnet wird.

Ich werde ausgehen von der Vorstellung des Paulus, auch wenn er das Wort Reich Gottes hier nicht benutzt:

„Denn die ungeduldige Sehnsucht der Schöpfung harrt auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes.... dass auch sie, die Schöpfung, von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werde zur Freiheit der Herrlichkeit der Söhne Gottes.  Wir wissen ja, dass die gesamte Schöpfung bis zur Stunde seufzt und in Wehen liegt. Und nicht nur das, auch wir, die wir die Erstlingsgabe des Geistes besitzen, auch wir seufzen in uns selbst in der Erwartung der Erlösung unseres Leibes.“ Röm 8, 18-24

Ich stelle daneben eine ähnliche Vorstellung, die sich auf den marxschen Kommunismus bezieht:

„Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus=Humanismus, als vollendeter Humanismus=Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ MEW.  Ergänzungsband Erster Teil S. 536

In beiden Vorstellungen steht im Zentrum die „Erlösung des Leibes“ (Paulus) und die „Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen“ (Marx).[15] Tatsächlich handelt es sich in beiden Fällen nicht um Projekte des Handelns, folglich nicht um Ziele, sondern um Perspektiven, unter denen Projekte des Handelns entwickelt werden sollen. Die Perspektiven inspirieren. Es handelt sich um Projekte, die, wie dies Urs Eigenmann nennt,  mit den entsprechenden transzendentalen Begriffen verträglich sind. Sie sind der himmlische Kern des Irdischen. Der Papst Franciscus spricht davon, das Reich Gottes „gegenwärtig“ zu machen.

Tatsächlich entwickeln alle Befreiungsbewegungen der Menschheit solche Perspektiven eines gelungenen menschlichen Lebens, die immer ein Verhältnis der Verwandtschaft untereinander haben. (So etwa der Himmel des Islams, das Nirwana der Buddhisten oder Vorstellungen der chinesischen Taoisten, aber auch der vorkolumbianischen Kulturen Amerikas und der Kulturen Afrikas und andere) Und der humanistische Atheismus ist ein ganz zentraler Teil dieser Vorstellungen, wie man etwa bei Marx sieht.


[1] Columbus, im Brief aus Jamaica, 1503. - Karl Marx, Das Kapital Bd. I. MEW, Band 23, Berlin 1968,S. 145

[2] zitiert in: G. Gutierrez, Gott oder das Gold. Freiburg 1990. S. 197

[3] Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte Schriften, Hrsg.: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1. Auflage, 1991, Bd. VI, S. 100 – 102.

[4] Marx, Karl: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilisophie.Vorrede. Marx Engels Werke.  Ergänzungsband. Erster Band. S. 262

[5] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, I, 385

[6] Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. Marx Engels Werke. Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1973 S.217/218

[7] Karl Marx, Das Kapital, I, MEW, 23, S. 528/530

[8] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei

[9] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, I, 385

[10] Hinkelammert, Franz: Hacia una crítica de la razón mítica. El laberinto de la modernidad. Materiales para la discusión. Arlequín, San José (Costa Rica) 2007 p. .284/285

[11] Marx, Karl: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilisophie.Vorrede. Marx Engels Werke.  Ergänzungsband. Erster Band. S. 262

[12] Papst Franziskus an die Botschafter von Kirgisien, von Antigua und Barbuda, des Großherzogtums Luxemburg und von Botswana - 16. Mai 2013

[13] Aber es gilt, davon abgeleitet, auch für alle einzelnen Fälle wie z.B.:

„Der Mensch ist nicht für den Fussball da, sondern der Fussball ist für den Menschen da.“ Dies Beispiel soll nur zeigen, dass dieses Prinzip auch auf jede einzelne Institution anwendbar ist. Es ergibt sich allerdings keine universale Religion, wie dies im Fall des Marktes geschieht. Die universale Religion folgt immer dann, wenn man von einer universalen Institution wie dem Markt, aber auch wie dem Staat oder die Ehe, ausgeht.

[14] s. Hinkelammert, Franz: Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Gesellschaftstheorie.  Luzern/Mainz, 1994

[15] Auf diese Verwandtschaft hat  besonders Rosa Luxemburg hingewiesen. s. Luxemburg, Rosa: Kirche und Sozialismus. Es handelt sich um eine im Jahre 1905 geschriebene Broschüre.  https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1905/xx/kirche.htm

Der schweizer Theologe Leonhard Ragaz ging ganz ähnlich von der Verwandtschaft beider aus, was aber natürlich keineswegs eine Identifizierung bedeutete.

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